Kohlenstoff-Resilienz
Am 24. Februar 2022 lud das Forum Rathenau ab 18 Uhr abermals zum hybriden Carbon Cycle Culture Club (C4) ins Kraftwerk Zschornewitz ein. Fachexpertinnen und -experten diskutierten Perspektiven einer „Kohlenstoff-Resilienz“.
Das Event wurde live gestreamt. Zum Video.
Die doppelte Bedeutung der Kohlenstoff-Resilienz
Der Kohlenstoffkreislauf vereint Atmosphäre, Biosphäre, Hydrosphäre und Lithosphäre, die in einem ständigen und komplexen Austausch miteinander stehen. Menschliche Emissionen aus fossilen Rohstoffen beeinflussen diesen globalen Kreislauf.
„Kohlenstoff-Resilienz“ beschreibt die Widerstandsfähigkeit des globalen Kohlenstoffkreislaufs angesichts anthropogener Einflüsse. Kohlenstoffsenken in den Ozeanen, in Pflanzen, Böden, Mooren ebenso wie neue Nutzungen von Kohlenstoff müssen zum Gleichgewicht beitragen. Hier setzt die Zukunft der Chemieindustrie an. Nach den effizienten Kreislaufketten der Kohlechemie benötigen wir neue, postfossile Reaktions- und Produktkreisläufe – auch des Kohlenstoffs.
Zu Gast auf dem hybriden Podium waren:
- Prof. Dr. Peter H. Seeberger, Verfasser des Großforschungsantrags „Chemresilienz – Forschungsfabrik im Mitteldeutschen Revier“ und Direktor am Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung in Potsdam
- Prof. Dr. Thomas Brockmeier, Hauptgeschäftsführer, IHK Halle-Dessau
- Max Fuhr, Bereichsleiter Kaufmännische Steuerung, Chemiepark Bitterfeld-Wolfen
- Christian Schiller, Co-Founder und CEO bei cirplus GmbH
Inhaltlicher Rückblick
LEAG ist neues Mitglied
Die Mitgliederzahl steigt: der Eigentümer des Kraftwerk Zschornewitz, die LEAG, Lausitz Energie Bergbau AG, ist neues Mitglied des Forum Rathenau, berichtet die Ortsbürgermeisterin von Zschornewitz Martina Schön. „Daraus ergibt sich eine ganze Menge Unterstützung, die wir auch gebrauchen können“, so Schön. Professor Wehrspohn bekräftigt, man freue sich über neue Mitglieder, auch Privatpersonen, um gemeinsam die „Übermorgen-Fragen“ zu denken.
Mit „Chemresilienz“ auf Stärken setzen und Stärken ausbauen
„Bei uns geht’s eigentlich um eine komplette Transformation der Chemie,“ sagt Prof. Dr. Peter H. Seeberger, vor Ort im Kraftwerk über seinen Großforschungsantrag „Chemresilienz“. Auch in Zukunft werde nicht alles, was verbraucht werde, aus der Natur kommen. Seeberger: „Wir müssen neue Kohlenstoffquellen durch Recycling, Biobasiertes und die Verwendung von CO2 erschließen.“ Wenn die fossilen Energiequellen in Zukunft nicht mehr genutzt würden, werde sehr viel mehr Strom benötigt.
Ziel sei es, eine Kreislaufwirtschaft, die auf nachwachsenden Rohstoffen und Abfall basiere, wie folgt zu etablieren: CO2-Ausstoß reduzieren, Energie, Wasser und Transport minimieren. Das müsse aber auch dazu führen, dass die Resilienz am Produkt in Deutschland gegeben ist. Deutschland und Europa müssten in der Lage sein, den eigenen Bedarf an Grund- und Spezialchemikalien zu decken.
„Auf Stärken setzen und Stärken ausbauen!”
Das Institut Centrum für Transformation der Chemie (CTC), das Professor Seeberger aufbauen möchte, mache es sich zur Aufgabe, den Input zu verändern und von nachwachsenden Rohstoffen und Recyclat ausgehend, eine Kreislaufwirtschaft zu etablieren. Es habe zur Aufgabe, 1000 Mitarbeiter:innen in Sachsen-Anhalt und Sachsen zu beherbergen.
Das Wichtige an der Chemie sei, dass nur 20 Prozent der Mitarbeiter:innen typischerweise Akademiker:innen sind. Seeberger: „Wir machen uns zum Ziel, hier auch Facharbeiter:innen in den verschiedenen Bereichen auszubilden. Das Zentrum soll ein Kristallisationspunkt für Ausgründungen und Ansiedlungen werden. Es soll ein Aushängeschild für die Spitzenforschung werden.“ Nach dem Motto: „Auf Stärken setzen und Stärken ausbauen! Die Stärken hier sind die Chemieindustrie“, sagt Seeberger.
IHK Halle-Dessau steht geschlossen hinter dem Projekt
„Wir, als IHK Halle-Dessau, unterstützen dieses Projekt“, so Prof. Dr. Thomas Brockmeier: „Wir präferieren das ,Chemresilienz-Projekt’ eindeutig.“ Entscheidend sei es, die Chemieindustrie, die in der Region für Wertschöpfung ausschlaggebend ist, zu stützen. Als Professor Seeberger das Konzept vor einigen Wochen in Leuna vorgestellt hat, waren drei Gremien der IHK mit Mitgliedern vertreten, einschließlich des Präsidenten Professor Dr.-Ing. Steffen Keitel.
Es sei sehr schnell der Konsens hergestellt gewesen, dass „Chemresilienz“ ein unterstützenswertes Projekt ist. In der Chemieindustrie habe man einen relativ geringen Akademisierungsgrad. Brockmeier: „Was mich sehr gefreut hat war, dass Professor Seeberger von sich aus mit dem Stichwort Fachkräfte, für die wir ja im Bereich der dualen Ausbildung als IHK eine wichtige Rolle spielen, auf uns zukam. Ich bin gerne bereit, alles zu mobilisieren was wir zur Unterstützung dieses Projekts tun können.“
Wer die Norm macht, macht’s Geschäft
Professor Wehrspohn, der auch Präsidiumsmitglied des Deutschen Instituts für Normung ist, sagt ein weiterer Aspekt neben Patenten und Know-how sei: „Der macht die Norm, der macht’s Geschäft.“ Christian Schiller, Co-Founder und Hauptgeschäftsführer der cirplus GmbH, stelle sich genau die Frage.
Die Normung ermögliche den Kunststoffrezyklat Kreislauf über die Standardisierungslücken hinweg zu schließen. Beim Versuch digitale Geschäftsmodelle im Bereich der Kunststoffrezyklate zu etablieren, seien schnell Grenzen dessen erreicht was digital möglich sei, so Schiller. Zumindest insofern die Standardisierung der Produkte, die über diese Plattform gehandelt werden sollen, nicht mitgedacht würden.
Das betreffe nicht nur das mechanische Recycling, sondern im Bereich der Kunststoffabfälle auch chemische Verfahren. Ausschlaggebend für seine Firmengründung: Die Menge an Plastikmüll, die in die Weltmeere gelange. Während einer Weltreise mit Aufenthalt in der Karibik ist Schiller in einen Plastikmüll-Algenteppich geraten.
Wenn er sich die Projektion der Chemieindustrie für die globale Kunststoffproduktion ansehe, dann seien die 15 Millionen Tonnen Abfall, die mittlerweile jährlich in die Weltmeere gelangten noch nicht das Ende der Fahnenstange. Schiller: „Es ist die klaffende Wunde des wunderbaren Werkstoffes Kunststoff.“ Es sei nötig, sich ernsthaft mit der echten Zirkularität auseinander zu setzen. Ökonomisch sei Neuware in der Regel günstiger als recycelte Ware. Der Recyclingmarkt sei unglaublich fragmentiert.
„Die Digitalisierung ist in meinen Augen der Schlüssel schlechthin“, sagt Schiller. Ziel sei die digitale Verbindung eines dreiseitigen Marktplatzes vom Entsorger zum Recycler und Verarbeiter. Schiller: „Wir wollen mit unserer Software Ordnung ins Chaos der zirkulären Wertschöpfung bringen.“ Standards stünden da an erster Stelle. „Wir wollen weltweit dazu beitragen, Kunststoffrezyklate als Voraussetzung für den skalierbaren Einsatz in der Industrie zu standardisieren“, so Schiller.
Großes Interesse am Aufstieg der Elektromobilität
Das Stichwort Plattformökonomie findet auch Max Fuhr, Bereichsleiter der kaufmännischen Steuerung des Chemiepark Bitterfeld-Wolfen, sehr spannend. Chemieparkbetreiber sähen sich als Dienstleister für Infrastruktur, die auch als Plattform betrachtet werden könne: „Wir sind der Raum der Handlung für die Chemie- und Produktionsunternehmen.
Wir sind ein elektrochemischer Standort und Europas größter offener Chemiestandort“, sagt Fuhr. Ein Beispiel für Kreislaufwirtschaft im Bereich der Anorganik sei die Elektrolyse von Chlor- und Wasserstoff, der weitersynthetisiert zu gasförmigem Chlorwasserstoff zum nächsten Unternehmen transportiert werde, das daraus Siliciumtetrachlorid als Rohstoff für eine Halbleiterindustrie herstelle.
Beim wiederum nächsten Unternehmen wird daraus synthetisches Quarzglas als Rohstoff für Lichtwellenleiterkabel hergestellt. Bei dem Prozess falle ein Abfallgas an, das sehr sauer sei und mit Natronlauge neutralisiert werden müsse. Übrig bleibe eine wässrige Salzlösung, die wieder zurück in die Elektrolyse gehe: Damit habe man einen rückstandsfreien und geschlossenen Chlorkreislauf. Das betreibe der Chemiepark derzeit großindustriell.
Als Zukunftsaufgabe für einen Chemieparkbetreiber habe er mit Blick auf die Standortentwicklung zwei Gedanken: „Wie bekommen wir Kohlenstoff wieder in Chemiekreisläufe?“ und wie könnten aus grünem Wasserstoff und noch zu identifizierenden Kohlenstoffquellen klassische Stoffströme entstehen. Es gebe mehrere Forschungsprojekte, die Methanol als gemeinsamen Aufhänger hätten.
Fuhr über künftige Aufgaben als Standortbetreiber eines Chemieparks: „Stoffströme identifizieren, Lücken entdecken, Unternehmen zum Rohstoffaustausch anregen. Wir gucken mit großem Interesse auf den Aufstieg der Elektromobilität, die auf Batterietechnologie basiert, für die man sehr viel Chemie benötigt.“
Was das Mitteldeutsche Chemiedreieck angehe, sei die Transformationsaufgabe klar. Es gebe große Produzenten von Methanol und Ammoniak. Fuhr: „Wir brauchen diese Stoffe, um unsere acht Milliarden Menschen zu ernähren“. Das seien gleichzeitig aber auch die größten Treibhausgasemittenten im mitteldeutschen Chemiedreieck. Deshalb sagt er: „Wir brauchen mehr grünen Strom.“
Professor Seeberger sieht die Chemieindustrie als hochoptimiert. In den letzten 150 Jahren seien Prozesse entwickelt worden, die alles aus den fossilen Rohstoffen nutzten. Jetzt sei es die Aufgabe das gleiche in der Kreislaufwirtschaft zu tun.
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