Negative Emissionen ab 2050 - aber wie?
Am 16. Dezember 2021 lud das Forum Rathenau ab 18 Uhr abermals zum hybriden Carbon Cycle Culture Club (C4) ins Kraftwerk Zschornewitz ein. Fachexpertinnen und -experten diskutierten Perspektiven rund um „Negative Emissionen – Was können und wollen wir mit 10 Milliarden Tonnen CO2 pro Jahr ab 2050 sinnvolles machen?“ Das Event wurde live gestreamt: Zum Video.
Hintergrund: ein ambitioniertes Ziel
In seinem Sonderbericht von 2018 beschreibt der Zwischenstaatliche Ausschuss für Klimaveränderungen (Intergovernmental Panel on Climate Change, IPCC), wie sich die Verläufe menschengemachter Emissionen verändern müssen, um die globale Erwärmung auf deutlich unter 2°C zu beschränken.
Ab 2050 keine menschengemachten Emissionen mehr – unabhängig von einer ambitionierten Emissionsverminderung in naher Zukunft haben alle Verläufe eine Gemeinsamkeit: CO2 muss dem Kreislauf entzogen werden, um die Emissionen der Vergangenheit zu kompensieren. Nur so ließen sich die Ziele des Pariser Klimaabkommens realisieren.
Das bedeutet, dass ab 2050 bis zu 10 Milliarden Tonnen CO2 pro Jahr aus dem Kreislauf entnommen, abgeschieden und gespeichert werden müssen. Dieser Wert ist abhängig von den Maßnahmen, die bis dahin ergriffen wurden. Was können und wollen wir mit dieser Menge sinnvolles machen?
Zu Gast im Podium waren:
- Elena Herzel, Geschäftsführerin der Entwicklungs- und Wirtschaftsförderungsgesellschaft (EWG) aus dem TGZ Bitterfeld-Wolfen
- Prof. Dr. Andreas Löschel, Energieökonom und Vorsitzender des Energiemonitoring-Beirats der Bundesregierung sowie IPCC Mitglied
- Prof. Dr. Dr. Herbert Pöllmann, Geologe für CO2-Verwitterungstechnologien
- Dr. Christoph Mühlhaus, Koordinator CO2-Pipeline im Mitteldeutschen Revier
Inhaltlicher Rückblick:
„Wir laufen schon lange, haben aber das Ziel vor Augen.“
An den Bildern erkennt man auch heute noch, welche Dimensionen das Kraftwerk hatte und wie es die ganze Region geprägt hat, stellt Martina Schön fest. „Stilllegung, ja – aber immer die Hoffnung, dass hier keine Ruhe einkehrt“, sagte sie zur Außerbetriebnahme 1992. Anschließend wurde sich viel engagiert. Die Kraftwerkssenioren hätten keine Ruhe gegeben, aber auch der Ministerpräsident Dr. Reiner Haseloff und andere Unterstützer setzten sich für das Industriedenkmal ein.
Das Gespräch, das der Forum Rathenau e.V. kürzlich mit LEAG-Vorstandsmitglied Andreas Huck hatte zeige ihr, dass die LEAG offen für die Vorstellungen ist keine Ruhe einkehren zu lassen – und der damalige Wunsch von Martina Schön Wirklichkeit bleibt. Diese Entwicklung ist wie ein Marathon, so Schön: „Wir laufen schon lange, haben aber das Ziel vor Augen.“
Studio des zweiten C4: Martina Schön und Moderator Prof. Ralf Wehrspohn vor Ort in Zschornewitz
Was bedeuten negative Emissionen?
Prof. Ralf Wehrspohn, Moderator des zweiten Carbon Cycle Culture Clubs, weiß dass diese Entwicklung nur lebendig bleibt, wenn sie mit Inhalten gefüllt wird. Im letzten Monat wurde „Grüner Kohlenstoff“ thematisiert und die Möglichkeiten der Bioökonomie und Kohlenstoffkreislaufwirtschaft aufgezeigt. Nun widme sich die Diskussion aber nicht den 97 % des „natürlichen“ Kohlenstoffdioxids in der Atmosphäre, sondern den 3 % die menschengemacht sind und die langfristig wieder aus dem Kreislauf entfernt werden müssen – Stichwort „Negative Emissionen“.
Moderator Prof. Ralf Wehrspohn leitet in das aktuelle Thema “Negative Emissionen” ein.
Kohlenstoffsenken sind unverzichtbar
Prof. Dr. Andreas Löschel beschreibt Kohlenstoffsenken für negative Emissionen als unverzichtbar. Von den 40 Gigatonnen (Gt) der menschengemachten CO2-Emissionen, reicherten sich nur ungefähr 50 % in der Atmosphäre an. Der Rest werde in Senken absorbiert, wie Ozeanen und der Biosphäre. Jede Tonne CO2 die in die Atmosphäre ausgestoßen wird, führt zu einer Temperaturveränderung. Der IPCC hat unter Berücksichtigung von Unsicherheiten unterschiedliche Szenarien vorhergesagt, die eine Temperaturveränderungen abhängig vom verbleibenden Emissionsbudget angeben.
Prof. Dr. Andreas Löschel berichtet über die Vorhersagen des IPCC
2014 wurden erstmalig zwei Szenarien definiert, die mit den Zielen des Pariser Klimaabkommens vereinbar sind (SSP1-1.9 und SSP1-2.6). Kurzgefasst besagen diese: CO2-Neutralität ab 2050 um unter einem durchschnittlichen Temperaturanstieg von 2°C zu bleiben. Damit der Kreislauf im Gleichgewicht bleibt, müssten unvermeidbare Emissionen kompensiert werden, indem CO2 aus der Atmosphäre entzogen wird. Je nach Zielpfad müsse man bereits 2050 damit beginnen.
Der Umfang negativer Emissionen ist abhängig von dem Emissionsbudget, dass bis zur Klimaneutralität verbraucht wird. Für die Praxis müsse bewertet werden, welche natürlichen Möglichkeiten und technischen Kapazitäten für negative Emissionen überhaupt realistisch sind. Deshalb ließe sich der genaue Bedarf an Senken schwer voraussagen.
Laut eines IPPC Berichts von 2021 (S.39 T.SPM.2) ist ab 2020 ein Budget von 300 GtCO2 verfügbar um mit einer Wahrscheinlichkeit von 83 % das 1,5°C Ziel einzuhalten. Für das 2°C Ziel wären analog 900 GtCO2 verfügbar.
Potentiale verschiedener Kohlenstoffsenken
Häufig diskutierte Wege zur Reduzierung der atmosphärischen Kohlenstoffdioxidkonzentration sind Aufforstung (Agriculture, Forestry and Other Land Use; AFOLU), Bioenergie mit CO2-Abscheidung und -Speicherung (Bioenergy with Carbon Capture and Storage; BECCS) und Biokohle (Carbon Dioxide Removal; CDR). Diese Möglichkeiten ließen sich bei geringen Kosten leicht umsetzen, haben allerdings limitierte Kapazitäten. Nach Minx et al. (2018) beträgt das Potential durch Aufforstung höchstens 2,6 GtCO2/Jahr, durch BECCS 5 GtCO2/Jahr und durch Biokohle 2 GtCO2/Jahr.
Ein langfristig höheres Potential biete Direct Air Capture (Carbon Capture and Storage/Utilization; CCS/CCU). Derzeit befindet sich diese Technologie in einer Entwicklungsphase, ist für den globalen Maßstab nicht erprobt und vergleichsweise teuer, so Löschel. Ein Vorreiter um den Großmaßstab zu erproben ist die Anlage „Orca“ in Island.
Anhand einer Studie erläutert Prof. Löschel unterschiedliche Potentiale und ihre Machbarkeit. Abbildung nach Jan C Minx et al 2018 Environ. Res. Lett. 13 063001. A: Aufforstung, B: BECCS, C: Biokohle, D: Verwitterung, E: Direct Air Capture, F: Ozeandüngung, G: Kohlenstoffbindung im Boden
Was kann Deutschland lernen?
In Deutschland schreibt das Klimaschutzgesetz Netto-Null Emissionen bis 2045 vor. Folgemaßnahmen sind bereits festgelegt. So sollen durch Forstwirtschaft und Landnutzung beispielsweise jährlich 14 mio. Tonnen CO2 aus der Atmosphäre entzogen werden. Außerdem bekennt sich die Bundesregierung zu einer Langfriststrategie (Koalitionsvertrag S.65 Z.4): Mittels technischer Negativemissionen sollen die jährlich anfallenden Restemissionen von Landwirtschaft und Prozesstechnik (heute anteilig ca. 5 %) aus dem Kreislauf entfernt werden.
Aus Sicht der Industrie seien in Deutschland negative Emissionen von 60 mio. Tonnen/Jahr durch CCS und CCU möglich. Eine akute Herausforderung bleibe neben der Skalierbarkeit technischer Senken auch die Akzeptanz in der Bevölkerung, besonders von CCS.
„In jedem Fall würde es Sinn machen, die Technologie für den Ausbau zu fördern.“
International gibt es große Anstrengungen natürliche Senken zu nutzen, beispielsweise Moore und Wälder. Diese Lösungen seien zwar sehr beliebt, werden aber nicht ausreichen, so Prof. Löschel. Es müsse eine Fläche äquivalent zu Brasilien aufgeforstet werden, um den globalen Bedarf zu decken. „Das wird nicht klappen.“, sagt der Energieökonom. Dieser Widerspruch von Machbarkeit und Lösungsansätzen zeige auch, dass das Thema sehr irrational diskutiert wird.
Es wäre viel Zeit verloren gegangen, gemessen daran, wie lange das Thema bereits auf dem Tisch ist. Die fehlende politische Unterstützung und geringe wirtschaftliche Rentabilität hätte in Europa bereits dafür gesorgt, dass viele existierende CCS Projekte eingegangen sind. Einen ähnlichen Verlauf hätte es in den 2000er Jahren in den USA gegeben. Jetzt fahre das System langsam wieder hoch. Das unternehmerische Interesse an großen Investitionen ist vorhanden, stehe mit den Kontroversen zu CCS jedoch vor einer weiteren Herausforderung. Das Fazit von Prof. Löschel lautet: „In jedem Fall würde es Sinn machen, die Technologie für den Ausbau zu fördern.“
Es braucht eine Kohlenstoffstrategie
Dr. Christoph Mühlhaus kennt sich im Mitteldeutschen Chemiedreieck gut aus. Die Region bietet einen starken petrochemischen Rohstoffverbund, der sich als Ergebnis der Privatisierung gebildet hat. Dazu gehöre auch eine starke logistische Infrastruktur mit Pipeline, Bahn- und Straßenanbindung, technischem Know-how und diverser unternehmerischer Profile. Nach Ende der Braunkohleverstromung sei im Mitteldeutschen Chemiedreieck mit ungefähr 5 mio. Tonnen CO2-Emissionen pro Jahr zu rechnen. Teilmengen davon fielen hochkonzentriert an.
CO2-Abscheidung und Speicherung beziehungsweise Verwendung (Carbon Capture and Storage/Utilization; CCS/CCU) sind interessante technische Möglichkeiten zur Defossilisierung der Grundstoffindustrie und gegen die drohende Deindustriealisierung, so Mühlhaus. Neue wirtschaftliche Perspektiven seien auch im Kontext des bevorstehenden Strukturwandels bedeutend, der mit dem Ausstieg aus der Braunkohleverstromung einhergeht.
Dr. Christoph Mühlhaus präsentiert das Mitteldeutsche Chemiedreieck
Das Ende der Kohlechemie werde für unsere Binnenindustrie zur besonderen Herausforderung, da der Zugang zu Handelswegen und erneuerbaren Energie im Vergleich zu Küstenstandorten erschwert sein werde. Neben der Überführung von Kunststoffabfällen und biogenen Reststoffen in eine Kreislaufwirtschaft, könne auch gasförmiges CO2 durch CCU als Rohstoff genutzt werden um neue Kunststoffe, Kautschuk oder E-Fuels zu synthetisieren.
„Dieses Mal setzen die Unternehmen die Themen.“
Die bevorstehenden Herausforderungen hätten zu einer nie dagewesenen Zusammenarbeit der regionalen Unternehmen aus der Chemieindustrie geführt, berichtet Dr. Mühlhaus beeindruckt. Mit dem dedizierten Programm des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWi) „CO2 -Abscheidung und -Nutzung in der Grundstoffindustrie“ werden zunächst alle Möglichkeiten erfasst und bewertet. Entwicklungen, die eine Chance zur Umsetzung haben, sollen anschließend in Demoanlagen erprobt werden.
Am 01. Oktober 2021 startet dazu das Projekt „CapTransCO2“, dass die größten CO2 Emittenten in Mitteldeutschland mit den Know-how zur Gasaufbereitung und -verdichtung sowie zum Gastransport und -speicherung vereint. Ab 2024 bieten beispielsweise die Aquiferen Northern Lights eine Möglichkeit für CCS. Dort sollen große Mengen CO2 in einem Reservoir 2600 Meter unter dem Meeresboden stabil gespeichert werden.
„CCS ist ein wichtiger Zwischenschritt, um die Grundstoffindustrie zu erhalten.“
Aktuell befindet sich zudem ein weiteres Förderkonzept des BMWi in der Umsetzung, dass auf die Produktion synthetischer Kraftstoffe (Power to Liquid) wie E-Kerosin abzielt. Für das Verfahren werden neben CO2 auch große Menge erneuerbare Energien zur Wasserstoffproduktion benötigt.
Langfristig soll CCU die fossilen Rohstoffe ersetzen, erklärt Dr. Mühlhaus. CCS hingegen sei ein wichtiger Zwischenschritt, um die Grundstoffindustrie zu erhalten. Um die gewünschten Entwicklungen umzusetzen, müssen die Möglichkeiten und die Infrastruktur der Unternehmen beachtet werden, für die Wirtschaftlichkeit unverzichtbar bleibt.
CO2-Sequestration durch Mineralisierung
Neben der Industrienutzung und der Speicherung in Senken beschreibt der gelernte Mineraloge Prof. Herbert Pöllmann einen weiteren Weg, große Mengen des klimaschädlichen Gases dauerhaft aus dem Kreislauf zu entziehen: CO2 kann durch Mineralisierungsreaktionen fest an Gesteine gebunden und damit abgeschieden (sequestriert) werden.
Wenn man sich die verfügbaren Gesteine anschaue werde deutlich, dass das Potential riesig ist. Er betont: „Bastalt ist nicht gleich Basalt“, es gibt eine große Bandbreite. Einige liegen als feines Material oder porös vor und bieten besonders viel Oberfläche. Die CO2-Sequestrationsreaktion liefe zudem besser mit basischen Gesteinen ab.
Durch die Reaktion von ursprünglichen Gesteinen, die „frisch aus der Schmelze“ kämen, mit CO2 werden stabile Carbonate gebildet. In der Realität seien Verwitterungsgesteine aber deutlich komplexer zusammengesetzt. Diese „Mischverbindungen“, wie der Mineraloge sagt, reagierten langsamer mit CO2. Dabei komme es außerdem zu einer signifikanten Volumenzunahme des verwitternden Gesteins. In der Praxis seien bestimmte Reaktionsbedingungen für eine zügige Mineralisierung schwer umzusetzen oder gingen mit hohen Kosten pro Gigatonne CO2 einher.
Prof. Dr. Dr. Herbert Pöllmann beschreibt CO2-Mineralisierungsreaktionen
Der logistische Aufwand, diese Rückstände mit konzentriertem CO2 über große Distanzen miteinander zu vereinen bleibe eine Herausforderung. Vielversprechend zeigt sich auch der Einsatz des Calciumsilicats Wollastonit, der unter geringem Überdruck oder Erhitzung gut mit atmosphärischem CO2 reagiert.
Ob in situ (vor Ort) oder ex situ (im Labor): Die Mineralisierungsreaktion bietet im Gegensatz zur Speicherung untertage den Vorteil, dass CO2 fest gebunden wird. Gleichzeitig ist dieses CO2 damit auf lange Sicht nicht industriell nutzbar.
„Die Überreste von großen Minen finde ich besonders spannend.“
Der logistische Aufwand, diese Rückstände mit konzentriertem CO2 über große Distanzen miteinander zu vereinen, bleibe eine Herausforderung. Vielversprechend zeigt sich auch der Einsatz des Calciumsilicats Wollastonit, der unter geringem Überdruck oder Erhitzung gut mit atmosphärischem CO2 reagiert.
Ob in situ (vor Ort) oder ex situ (andernorts, etwa unter Laborbedingungen): Die Mineralisierungsreaktion bietet im Gegensatz zur Speicherung untertage den Vorteil, dass CO2 fest gebunden wird. Gleichzeitig ist dieses CO2 damit auf lange Sicht nicht industriell nutzbar.
Die Unternehmen wollen gute Lösungen
„Das Umdenken findet statt“, sagt die Gründungsexpertin Elena Herzel. Zu den verfügbaren Fachkräften und der Lage komme auch die Klimaneutralität als Faktor für Unternehmensansiedlungen hinzu. Es gäbe Überlegungen ein CO2-neutrales Gewerbegebiet aufzubauen. Der Anstieg der Energiepreise und der politische Druck zur CO2-Vermeidung geht mit dem Verlangen der Unternehmen einher, gute Lösungen zu finden.
Elena Herzel ist Expertin in der regionalen Wirtschaftsförderung
Das Projekt „Transferkraftwerk Kohlenstoff“ besteht aus drei Bausteinen, beschreibt Herzel: Die Denkfabrik, die Hand in Hand mit den Veranstaltungen des C4 in Zschornewitz geht, eine Experimentierwerkstatt, die Weiterbildungs- und Berufsorientierungsangebote entwickelt, und die Transferwerkstatt, die die Bedürfnisse der Wirtschaft mit Forschungs- und Entwicklungsprojekten verknüpfen soll.
Unsere Redakteurin hat im Vorfeld der Veranstaltung mit Elena Herzel gesprochen.
Zum Gespräch
Pressemitteilung der Europäischen Kommission vom 15.12.2021 zu negativen Emissionen “Europäischer Grüner Deal: Vorschläge der Kommission zu Entfernung, Recycling und nachhaltiger Speicherung von CO2” – weiterlesen.
Weitere Fragestellungen, Zukunftstechnologien und -materialien können Sie in der Aufzeichnung unseres Livestreams verfolgen: