Energiewende neu denken – mehr Klimakapitalismus wagen
Am 07. Dezember 2023 fand die Neuauflage des Diskussions- und Denkformats Carbon Cycle Culture Club (C4) statt. Der Verein Forum Rathenau e.V. lud zu dieser Veranstaltungsreihe in das Industrie- und Filmmuseum in Bitterfeld-Wolfen ein. Drei ausgewählte Fachexperten gingen diesmal der Frage nach, wie Kohlenstoff der Atmosphäre entzogen und wiederverwendet werden kann.
Das hybride Event wurde live gestreamt. Zur Videoaufzeichnung.
Zu Gast auf dem hybriden Podium waren:
Bild: © Ralf Lonitz
Ralf Lonitz
Center for the Transformation of Chemistry (CTC) in Delitzsch
Bild: © Centrum für Europäische Politik
Dr. André Wolf
Centrum für Europäische Politik, Technology, Infrastructure and Industrial Development (cep)
Bild: © Dr. Stefan Müller
Dr. Stefan Müller
Miltitz Aromatics GmbH aus Bitterfeld-Wolfen
Inhaltlicher Rückblick
Im Herzen des Chemieparks Bitterfeld-Wolfen
Der Standort des Industrie- und Filmmuseums mitten im Chemiepark Bitterfeld-Wolfen könnte kein besserer Ort sein, um über Veränderungen und Umbrüche, aber auch Ideen und Lösungen miteinander ins Gespräch zu kommen. Bitterfeld-Wolfen galt lange als Zentrum der Chemischen Industrie in Mitteldeutschland und war zudem ein bedeutender Standort der Kohleförderung. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands folgte ein Umbau des Chemiestandorts, der aufgrund starker Umweltbelastungen und technisch veralteter Produktionsbetriebe unerlässlich war. Aus dem ehemaligen Braunkohletagebau entstand der Große Goitzschesee und anstelle alter Produktionsbetriebe siedelten sich moderne Technologie-Unternehmen an.
Blick in den Veranstaltungsraum des Industrie- und Filmmuseums in Bitterfeld-Wolfen
Ralf Lonitz: Das "Center for the Transformation of Chemistry" (CTC) in Delitzsch
Inmitten dieses bewegten Ortes begrüßt der Gastgeber und Vorstandsvorsitzende des Vereins Forum Rathenau e.V. Professor Ralf Wehrspohn die Gäste auf dem Podium und die zahlreichen Interessierten im Publikum und im Livestream. Zunächst spricht Ralf Lonitz zur Fragestellung. Er ist der Verwaltungsleiter des Center for the Transformation of Chemistry (CTC), dessen Hauptsitz im sächsischen Delitzsch aufgebaut werden soll. Das CTC möchte als Forschungsstandort Ansätze entwickeln, um die Chemieindustrie nachhaltiger zu machen. Dabei geht es insbesondere um die Verringerung der Abhängigkeit von fossilen Rohstoffen und die Reduktion von Kohlenstoffdioxid (CO2). In Zusammenarbeit mit Fachkräften aus der Region und der ganzen Welt soll die Chemie zu einer Kreislaufwirtschaft transformiert werden.
„Wir haben aktuell eine ganz schwierige Situation der Unternehmen der chemischen Industrie.“
Prof. Ralf Wehrspohn
„Wir haben aktuell eine ganz schwierige Situation der Unternehmen der chemischen Industrie“, attestiert Professor Ralf Wehrspohn und weist zugleich auf die Bedeutung des schnellen Aufbaus des CTC hin. Dem entgegnet Herr Lonitz, dass im Jahr 2024 bereits die ersten 40 bis 50 Wissenschaftler:innen eingestellt werden sollen. Bis 2038 möchte das CTC 1000 Mitarbeiter:innen beschäftigen, die neben der Forschung auch weitgreifende Verwaltungsaufgaben übernehmen sollen.
Dr. André Wolf: Studie "Energiewende neu denken: Mehr Klimakapitalismus wagen!"
Als nächster Gast spricht Dr. André Wolf, der online zugeschaltet ist. Er ist Mitarbeiter am Centrum für Europäische Politik (cep) in Freiburg, das im April 2023 eine Studie unter dem Titel „Energiewende neu denken: Mehr Klimakapitalismus wagen!“ veröffentlicht hat. In der Studie ginge es um den Umbau vorhandener industrieller Strukturen in Richtung Klimaneutralität, ohne dabei die aktuelle industrielle Wertschöpfung zu verlieren, erklärt Wolf. Ein wichtiger Faktor dafür seien verstärke Investitionen in diesen Sektor. Zunächst geht es um Carbon Capture and Storage (CCS). Durch diese Technologie soll Kohlenstoffdioxid in industriellen Prozessen eingelagert werden, damit es nicht in die Atmosphäre gelangen kann. In Bezug auf den Ausbau dieser Technologie zeige die Europäische Union (EU) Fortschritte auf, sei aber „weit entfernt, globaler Vorreiter zu werden“, meint Wolf. Es gäbe noch zahlreiche Probleme im Aufbau von CO2-Verwertungsketten, zum Beispiel im Bereich des Transports und der Speicherung. Als Handlungsvorschläge für den Aufbau dieser Ketten nennt Wolf beispielsweise das Formulieren von langfristigen Zielen der EU in Hinblick auf Carbon Removals. Dies meint Möglichkeiten, bereits in der Atmosphäre befindliches CO2 zu reduzieren, um die durch das Pariser Klimaabkommen gesetzten Klimaziele zu erreichen. Zudem könnten marktbasierte Klimaschutzverträge, Regeln für eine CO2 Binnenmarkt und eine transatlantische Carbon Capture and Storage (CCS) Partnerschaft mögliche Handlungsansätze sein. Dr. André Wolf ergänzt auf eine Nachfrage hin, dass die neuen Technologien zunächst ziemlich teuer seien und die Gesellschaft einige Ressourcen kosten würden.
Stefan Müller: Erfahrungen aus der unternehmerischen Praxis
Abschließend berichtet Dr. Stefan Müller, Geschäftsführer der Miltitz Aromatics GmbH aus Bitterfeld-Wolfen, von Erfahrungen aus seinem Unternehmen. Dieses ist auf die synthetische Herstellung von Riech- und Aromastoffen spezialisiert, die sich beispielsweise in Waschmittel- und Kosmetikprodukten wiederfinden. Er sei sehr umgetrieben von der vorangegangenen Diskussion und meint:
„Es ist alles visionär. Denken wir aber den Menschen mit? Denken wir die Bevölkerung mit?“
Dr. Stefan Müller
Seine Sorgen beziehen sich insbesondere auf die Umsetzungsmöglichkeiten der bereits angesprochenen theoretischen Handlungsideen. Er sieht es als Problem an, dass durch Gesetzgebungen und bürokratische Hürden kein Risiko mehr zugelassen sei. Innerhalb seiner Ausführungen stellt er die Frage: „Wollen wir Fortschritt?“. Um Fortschritt zu fördern, müssten Vorgänge schneller ablaufen, mit mehr Freiheiten unter anderem in Bezug auf das unternehmerische Risko. Er nennt dabei ein Beispiel, in dem Palmöl durch nachhaltigeres Madenfett ersetzt werden könne. In der Praxis sei dies aufgrund verschiedener Bestimmungen aber einfach nicht möglich. „Wir müssen Innovationen zulassen“, fordert Müller und wünscht sich mehr Mut neue Wege zu gehen.
Weitere Fragestellungen, Zukunftstechnologien und -materialien können Sie in der Aufzeichnung unseres Livestreams verfolgen.